Eine merkwürdige Meldung am Sonntag auf orf.at. Die Überschrift lautet: "Ärmelkanal: Neue Höchstzahl bei Geflüchteten." Ich reibe mir verwundert die Augen und lese weiter: "So viele Geflüchtete wie noch nie an einem Tag in diesem Jahr haben auf kleinen Booten den Ärmelkanal nach Großbritannien überquert. Wie die britische Nachrichtenagentur PA unter Berufung auf britische Regierungsdaten meldete, erreichten gestern insgesamt 872 geflüchtete Menschen die Küsten. Der bisherige Tagesrekord waren 756 Ankommende am 10. August."
Es ist wirklich so: Das Wort Flüchtlinge wird durch Geflüchtete ersetzt. Der ORF springt hier auf eine absurde sprachpolizeiliche Maßnahme auf, die schon vor einigen Jahren propagiert wurde. Das Wort Flüchtlinge wird wegen der Endung -ling fälschlich als abwertend eingestuft; außerdem habe es den Makel, dass es nicht gegendert werden kann.
Nun könnte man sagen: Schlecht gemacht, aber gut gemeint. Nein! Der Verfasser der Meldung hätte recherchieren können. Mit ein paar Klicks wäre er auf eine Aussendung des UN-Flüchtlingshilfswerks vom Anfang dieses Jahres gestoßen: "Wir betrachten das Wort Geflüchtete als abwertend und benutzen es nicht", sagte der UNHCR-Sprecher in Deutschland, Chris Melzer, der Deutschen Presse-Agentur. Am deutschen Namen des UN-Flüchtlingshilfswerks werde auch nicht gerüttelt. Der Chef der UN-Organisation, Filippo Grandi, bleibe der Hochkommissar für Flüchtlinge, nicht für Geflüchtete, betonte Melzer.
Melzer hielt den Begriff Geflüchtete für zu banal und für beschönigend. "Wir sind alle schon einmal vor irgendetwas geflüchtet, sei es vor einem Regenguss, einer unangenehmen Pflicht oder etwas anderem", sagt er. Ein Geflüchteter sei zum Beispiel auch ein Straftäter, der vor der Polizei flüchtet oder aus dem Gefängnis ausgebrochen sei. Flüchtling sei dagegen "quasi ein geschützter Begriff". "Er ist durch die Genfer Flüchtlingskonvention seit mehr als 70 Jahren fest definiert und hat eine Schärfe und Stärke, die Menschen schützt."
Der Ausdruck Flüchtling ist nicht herabwürdigend
Die in Frankfurt am Main ansässige Organisation "Pro Asyl" schrieb schon 2016: "In rechten Kreisen wird generell lieber von illegalen Einwanderern gesprochen, oft werden noch weit negativere Begriffe verwendet. Der (Ausdruck) Flüchtling ist offensichtlich einer, der es einem schwer macht, herabwürdigend über ihn zu reden. Außerdem: Flüchtlinge erinnern an die Folgen der NS-Diktatur und damit an unsere eigene kollektive Geschichte von Flucht und Vertreibung."
Und weiter heißt es in dem Beitrag von "Pro Asyl", eine Organisation, die sich für die Rechte von Flüchtlingen und Migranten einsetzt: "Im juristischen Sinn ist ein Flüchtling einer, der Rechte hat. Durch einen internationalen und europäischen Rechtsrahmen, dessen Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Genfer Flüchtlingskonvention begann. Dieses Recht gesteht Flüchtlingen noch vor Feststellung des Flüchtlingsstatus den Anspruch auf eine individuelle Schutzprüfung zu."
Mein Fazit: Wer Geflüchtete statt Flüchtlinge sagt oder schreibt, beraubt die betreffenden Personen ihrer Rechte, und beweist, dass er von der deutschen Sprache keine Ahnung hat. Wörter mit der Endung -ling sind nämlich nicht durchwegs negativ, man denke an das Wort Liebling.
Die merkwürdige Handhabung der Partizipien Präsens und Perfekt wäre ein eigenes Thema: Da gibt es in der ORF-Meldung die Geflüchteten, und wenn sie britischen Boden betreten haben, sind sie nicht mehr Geflüchtete, sondern Ankommende? Das erinnert mich an ankommende Urlauber. Sobald sie im Land sind, wären sie eigentlich nicht Ankommende, sondern Angekommene. Aber Flüchtlinge als Ankommende oder Angekommene zu bezeichnen ist so oder so ein Humbug.
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