Immer wenn ein Jahr zu Ende geht, kann man in irgendeiner Zeitung lesen, dass der klassische Neujahrswunsch aus dem Rotwelschen beziehungsweise Hebräischen stammt: Es sei eine Ableitung von 'Rosch ha schana tov!' - einen guten Anfang des Jahres. Das Wort 'Rosch' bedeutet nicht nur Kopf, sondern auch Anfang. Durch Verballhornung wäre im Deutschen 'einen guten Rutsch' entstanden."
Die Quelle ist Siegmund Andreas Wolf, Autor des 1956 erschienenen Buches "Deutsche Gaunersprache. Wörterbuch des Rotwelschen". Dort findet man unter "Rosch" die Eintragung: Rosch ha schono (= Neujahr); daraus entstellt laut Adolf Friedrich Thiele das sonst sinnlose "Guten Rutsch!" (= Frohes Neujahr!).
Thiele war allerdings eine fragwürdige Figur. Sein zweibändiges Werk "Die jüdischen Gauner in Deutschland, ihre Taktik, ihre Eigenthümlichkeiten und ihre Sprache", 1840 und 1848 erschienen, ist laut Wolf "von stärkster antisemitischer Tendenz". Schon damals, und ganz besonders später in der Zeit des Nationalsozialismus, manipulierten antisemitische Wissenschafter die Etymologien, um die Gaunersprache Rotwelsch mit dem Jiddischen und dem Hebräischen gleichzusetzen. Schon der Titel "Die jüdischen Gauner (...) und ihre Sprache" ist in dieser Hinsicht entlarvend. Um Belege für ihre krausen Ableitungen kümmerten sie sich wenig, auch Thiele hatte keinen plausiblen Beweis für seine Behauptung genannt.
Es hat mehr als ein halbes Jahrhundert gedauert, bis ein angesehener Universitätsprofessor aus Trier die Theorie widerlegte. Der Germanist Walter Röll wies 2002 in den "Jiddistik Mitteilungen" darauf hin, dass bekannterweise die Termine des christlichen und des jüdischen Neujahrsfestes nicht zusammenfallen und dass auch die jiddischen Bezeichnungen für die jüdischen und christlichen Feiertage unterschiedlich sind. Das Neujahr der Christen werde "schone chadosche" (= Gott verleihe dir ein gutes neues Jahr) genannt, das Neujahr der Juden "rausch haschono/ne" (= Anfang des Jahres). Röll fragt daher, wie "im Verkehr mit Nichtjuden aus einem Wunsch zur christlichen 'schone chadosche' ein 'Guter Rutsch!'" werden konnte.
Selbst wenn man der Theorie des dubiosen Autors Thiele folgen würde: Es bliebe das Problem, dass "rausch" und "Rutsch" lautlich so weit voneinander entfernt sind, dass ein Zusammenhang unwahrscheinlich ist. Es muss anders gewesen sein.
Wie das Wort „Rutsch“ eine neue Bedeutung bekam
Mit "der Rutsch" und "der Rutscher" ist auch eine kurze Reise gemeint. Im Verb "rutschen" steckt nämlich auch die Bedeutung gleiten, bezogen auf eine Fahrt mit dem Schlitten, später auf eine Fahrt mit der Eisenbahn und eine Fahrt jeder Art. In Goethes Gedicht "Die Lustigen von Weimar" heißt es: "Sonntag rutscht man auf das Land; / Zwätzen, Burgau, Schneidemühlen / sind uns alle wohlbekannt." Ein ähnlicher Beleg findet sich im "Bayrischen Wörterbuch" von Johann Andreas Schmeller: "An Feyertagen rutscht das lebsüchtige München gern auf Bering oder ins Hesselloh."
"Bei uns wird keine Eisenbahn geduld’t, die Frauen leiden’s nicht (= ertragen, akzeptieren es nicht), die Männer rutscheten ihnen zu oft nach Wien", heißt es in Nestroys "Eisenbahnheiraten". Wir sagen "ich mach einen Rutscher in den Supermarkt", wenn wir noch schnell einen Einkauf erledigen wollen.
"Glücklicher Rutsch!" bezog sich also ursprünglich auf eine kurze Fahrt - später im übertragenen Sinn auf den Wechsel ins nächste Jahr. Das ist die Lehrmeinung. Schon Heinz Küpper vermutete, dass der Wunsch "guter Rutsch" für ein müheloses Hinübergleiten ins neue Jahr "wie auf einem Schlitten" steht; Lutz Röhrich, sein 1973 erschienenes "Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten" gilt als Standardwerk, wird noch deutlicher: "Zugrunde liegt die Vorstellung des langsamen, fast unmerklichen Hinübergleitens", und er ergänzt, dass der Wunsch auch in verkürzter Form mit "Komm gut rüber!" geläufig ist.
Walter Röll merkte noch an, dass der Wunsch "Guter Rutsch!" jüngeren Datums sein muss, weil er weder im Grimm’schen Wörterbuch noch im "Wörterbuch der deutschen Sprache" von Daniel Sanders (Leipzig 1876) vermerkt ist. Er dürfte also um 1900 populär geworden sein.
Bildpostkarten waren früher beliebte Sammlerstücke
Um die Wende zum 20. Jahrhundert wurden Bildpostkarten durch Innovationen im Druckverfahren auch als Sammlerstücke attraktiv. Zur einfarbigen Lithographie trat nun die mehrfarbige Chromolithographie, hinzu kamen Stanzungen und Prägungen diverser Art. Nachdem zunächst Ansichtskarten überwogen hatten, erschienen auf dem Markt zu dieser Zeit auch Postkarten mit Glückwünschen zu unterschiedlichen Anlässen.
Postkartenschreiben und -sammeln wurde zur Mode; das Sammelfieber begann um etwa 1895 und endete mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Aus Mangel an Material und qualifizierten Arbeitskräften verfiel die Qualität der Karten, die Massenware verlor an Attraktivität. Nach dem Kriege wurde die alte Leidenschaft nicht zurückgewonnen; die maschinell hergestellte Bildpostkarte beherrschte den Markt.
Mi Hinweis auf die Bildpostkarten mit Neujahrsglückwünschen kann man öfter lesen, dass auf diesen fröhliche Menschen zu sehen waren, die im wörtlichen Sinn ins neue Jahr hinüberglitten. Auf diesen Karten wäre nicht "Prosit Neujahr" oder Ähnliches gestanden, sondern "Guter Rutsch".
Die Geschichte hat allerdings einen Haken: Derartige Bildpostkarten aus der damaligen Zeit dürfte es nicht in größerer Zahl gegeben haben - wenn überhaupt. Einige Unternehmen bieten im Internet historische Postkarten an, auch Glückwunschkarten zum Jahreswechsel. Auf keiner dieser Karten konnte ich den Spruch "Guter Rutsch" mit einer Abbildung von hinübergleitenden Menschen finden.
Karten mit der Aufschrift "Guter Rutsch" sind durchwegs jüngeren Datums. In diesem Fall wurde eine bereits existierende Wendung bildlich umgesetzt - oft sieht man ein Kind, den Weihnachtsmann oder ein Rentier auf einem Schlitten zu Tal fahren.
Fazit: Die Ableitung aus dem Rotwelschen bzw. Hebräischen kann nicht stimmen, und dass das Auftreten der Wendung mit der Hochblüte der Bildpostkarten etwas zu tun hat, dürfte ebenfalls eine Legende sein.
Hinweis: Die letzten Absätze dieses Beitrags wurden am 10. Jänner 2024 angefügt, weil sich bei einer Recherche keine Glückwunschkarten "Guter Rutsch" finden ließen.
„Nicht stimmen kann“ ist aber eine kühne Behauptung. sie finden die Erklärung nicht plausibel, aber dass sie nicht stimmen könne, ist natürlich völliger Schwachsinn