Oft habe ich es gelesen, und immer wieder ärgert es mich, weil etymologisches Unwissen dahintersteckt: Herbert Kickl habe sich einer Nazi-Terminologie bedient, indem er sich als potentieller "Volkskanzler" bezeichnet hat; aber vor ihm habe ja Alfred Gusenbauer dasselbe über sich gesagt.
Das stimmt: Am Tag nach seinem knappen Sieg über die ÖVP mit 35,3 zu 34,3 Prozent im Oktober 2006 meinte Gusenbauer zur "Krone": "Ich bin anders, und ich will einen anderen Stil pflegen. Ich verstehe mich als Volkskanzler."
Ein Nazi-Ausdruck per se ist "Volkskanzler" allerdings nicht.
Laut Wikipedia gilt als ältester Beleg ein Artikel in der steirischen sozialdemokratischen Parteizeitung "Arbeiterwille" vom 11. Oktober 1917, worin die Forderung nach einem „Volkskanzler“ erhoben wird. Dessen Politik solle sich nach „parlamentarischen Grundsätzen“ orientieren.
Im November 1918 bezeichnete das "Berliner Tagblatt" den Sozialdemokraten und späteren ersten Reichspräsidenten Friedrich Ebert als Volkskanzler.
Die Bezeichnung stammt also aus der Übergangszeit von der Monarchie zur Republik und war meist sozialdemokratisch konnotiert.
Später haben sich die Nationalsozialisten des Ausdrucks bemächtigt und Adolf Hitler als "Volkskanzler" propagandistisch vermarktet. Allerdings nur für ein Jahr. Dann wurde "Volkskanzler" durch "Führer und Reichskanzler" ersetzt.
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs bekam der Ausdruck jene Schattierung, die wir heute kennen. Volkskanzler sind jene Regierungschefs, die sich durch besondere Volksnähe auszeichnen: Leopold Figl und Bruno Kreisky bekamen dieses Attribut, in Deutschland Ludwig Erhard und Willy Brandt.
Alfred Gusenbauer hat das selbst gesteckte Ziel nie erreicht, sein Traum, ein Volkskanzler zu werden, war rasch ausgeträumt. Gusenbauer ist nicht nur kein Volkskanzler geworden, er hat nach dem Ausstieg aus der Politik auch einige merkwürdige Jobs übernommen, womit er seinen Ruf nachhaltig beschädigt hat.
Eine grob vereinfachte Darstellung der Wortgeschichte von "Volkskanzler", allein auf Hitler bezogen, ist also fragwürdig. Dass sie selbst in Qualitätszeitungen wie dem "Standard" zu finden war, hat mich überrascht.
Zurück zu Herbert Kickl. Er hat "Volkskanzler" neu definiert, in Wahlkampfreden und Postings, zum Beispiel auf Facebook:
"Ich möchte als Volkskanzler die Menschen in den Mittelpunkt meiner Politik stellen. So möchte ich für unsere 'Familie Österreich' wie ein fürsorglicher Familienvater sein: Zu unserer Familie zähle ich alle Österreicher und auch das ist mir wichtig alle Menschen, die hier leben und arbeiten, die unsere Werte mit uns teilen, die unsere Sprache sprechen, die sich in ihren Herzen mit unserer Heimat identifizieren und sich integriert haben."
Er grenzt also jene Menschen ohne österreichische Staatsbürgerschaft aus, die hier leben, aber keine Arbeit haben, die nicht deutsch sprechen, die nicht integriert sind und "sich in ihrem Herzen mit unserer Heimat nicht identifizieren". Das ist der klassische Spaltungsversuch rechtsgerichteter Parteien: Hier die Braven, und das seid ihr, dort die Bösen.
Hinzu kommt: Wer immer wieder tatsächliche Naziterminologien verwendet, wer die politischen Mitbewerber als "Systemparteien" bezeichnet und die unabhängige Presse sowie den öffentlich-rechtlichen Rundfunk als "Systemmedien", der gibt uns einen nicht zu übersehenden Hinweis, wie der von ihm gebrauchte Ausdruck "Volkskanzler" zu verstehen ist.
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Verwendete Quellen: Wikipedia Stichwort "Volkskanzler"; "Kronen Zeitung" vom 15. Jänner 2024: "Auch Gusenbauer war schon Volkskanzler"; "Der Standard" vom 30. November 2023: "Die Geschichte des Begriffs 'Volkskanzler': Von Hitler bis Kickl".
Der Begriff „Konzentrationslager“ ist nicht mal deutschen Ursprungs. Die ersten „concentration camps“ wurden von den Engländern errichtet – im Burenkrieg, also lange vor den Nazis.
Trotzdem wird der Terminus heutzutage ausschließlich mit dem Nationalsozialismus assoziiert. Wortgeschichtlich kommen wir hier also nicht recht weit.
Das „Volk“ im „Volkskanzler“ wird auch erst dann besser verständlich, wenn man sich z.B. erinnert an „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“, an die „(deutschen) Volksgenossen“, an den „Völkischen Beobachter“ oder an den „Volksempfänger“ und, ja, auch an den „Volkswagen“.
Letzterer ist insofern interessant, weil beim „Volkswagen“ ein braun angehauchter Terminus sich im Laufe der Zeit emanzipiert hat – in der Sprachwissenschaft nennt man das „Melioration“.
Erich Wallner