top of page
AutorenbildRobert Sedlaczek

Nach dem 7. Oktober greift eine neue Form der Cancel Culture um sich

Cancel Culture hat in unterschiedlichen Formen das politische und gesellschaftliche Leben geprägt, in verschiedenen Kulturen und zu verschiedenen Zeiten. Unliebsame Meinungen werden bestraft. Julian Nida-Rümelin listet in einem lesenswerten Buch die prominentesten Fälle auf. Als Urvater der Cancel Culture gilt Platon, er plädierte in der "Politeia" dafür, die Künstler, und insbesondere die Tragödienschreiber aus der Stadt zu verbannen, Sokrates untermauerte die Forderung mit erkenntnistheoretischen, politischen und psychologischen Argumenten. Die Werke der Kunst würden den Zugang zur Realität verstellen, sie würden aufrührerisch und spaltend wirken, würden die Harmonie von psyché und pólis, von der Einzelseele und der politischen Gemeinschaft, in Gefahr bringen. Erst Aristoteles setzte mit seiner kátharsis-Theorie einen Kontrapunkt: Die Erschütterungen, die durch den Besuch einer Tragödienaufführung ausgelöst werden, würden zu einer inneren Reinigung führen.


Von den alten Griechen und dem Fall Galileo Galilei ("… und sie dreht sich doch") spannt Julian Nida-Rümelin einen Bogen bis zur Gegenwart. Er gehört zu den renommiertesten deutschen Philosophen und war Kulturstaatsminister in der ersten rot-grünen Bundesregierung. Sein Buch heißt "Cancel Culture Ende der Aufklärung. Ein Plädoyer für eigenständiges Denken" und erschien Anfang dieses Jahres.


Die neueste Phase von Cancel Culture kann daher in dem Buch nicht vorkommen, sie ist nach dem 7. Oktober entstanden, als Hamas-Kämpfer in einem terroristischen Überfall verbunden mit einem Massaker an der Zivilbevölkerung und zahlreichen Geiselnahmen Israel angriffen. Es handelte sich um den größten Massenmord an Juden seit der Shoa.


In Deutschland, wo die Mitschuld am Zweiten Weltkrieg und an der Shoa nicht weggewischt werden konnte, und in Österreich, wo lange Zeit die "Opferthese" galt (erst Franz Vranitzky erklärte im Nationalrat am 8. Juli 1991: "Es gibt eine Mitveranwortung für das Leid, das zwar nicht Österreich als Staat, wohl aber Bürger dieses Landes über andere Menschen und Volker gebracht haben …“) führt dies zu einer Überreaktion: Wer die Politik der israelischen Regierung kritisiert hat oder unter dem Verdacht steht, für einen Boykott Israel eingetreten zu sein, kann ein Opfer von Cancel Culture werden.


Die "New York Times" widmete diesem Phänomen am 7. Dezember einen längeren Artikel, in dem einige Fälle genannt wurden:


o Das Folkwang Museum in Essen hat eine Zusammenarbeit mit Anaïs Duplan, einer in den USA lebenden haitianischen Kuratorin, abgebrochen. Einer der Gründe war ein Instagram-Posting: "Verlassen Sie die Straßen nicht und schweigen Sie nicht, bis die Belagerung beendet ist, jegliche Hilfe für Israel eingestellt ist und ein Waffenstillstand herrscht." Duplan hatte auch einen Aufruf gegen das Museum of Modern Art unterzeichnet, in dem den Vorständen vorgeworfen wurde, sie seien "direkt an der Unterstützung der israelischen Apartheidherrschaft beteiligt". Auf einer Karte war "Palästina" zu sehen, auf der Israel nicht mehr existiert.


o Die Biennale für aktuelle Fotografie, eine Veranstaltung, die im nächsten Jahr in drei deutschen Städten stattfinden sollte, wurde abgesagt, nachdem die Organisatoren herausgefunden hatten, dass einer der drei leitenden Kuratoren aus Bangla Desch, der Fotograf Shahiduk Alam, Israels Vorgehen in Gaza mit dem Holocaust verglich und dem Staat einen Genozid an den Palästinensern vorwarf. In seiner Heimat war Alam im Jahr 2018 wegen systemkritischer Aussagen mehrere Monate lang in Haft, erst nach internationalen Protesten kam er frei.


o Die Frankfurter Buchmesse sagte eine Preisverleihung für die zuvor bereits mehrfach ausgezeichnete Autorin Adania Shibli ab. Mehrere Zeitungen hatten berichtet, dass die israelische Schriftstellerin arabisch-palästinensischer Herkunft ein Naheverhältnis zur Boykott-Bewegung BDS habe und diese auch unterstützte.


o Die Behörden von Bochum kündigten an, dass sie die Verleihung des Peter-Weiss-Preises, eines bedeutenden Literaturpreises, an Sharon Dodua Otoo verschieben würden, weil sie einst eine Petition zur Unterstützung eines Boykotts Israels durch Kunstschaffende unterzeichnet hatte. In Österreich war Otoo 2016 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet worden, als erste Britin und als erste schwarze Autorin.


In einem kürzlich erschienenen Essay im „New York Review of Books“ sagte Susan Neiman, Direktorin des Berliner Einstein-Forums, dass Deutschlands übereifriger Ansatz zur Bekämpfung des Antisemitismus in eine "Hysterie" umgeschlagen sei, die "das reiche kulturelle Leben des Landes zu erdrosseln droht".


Nach meinem Gefühl schwingt in Deutschland und in Österreich freilich auch eine Portion schlechtes Gewissen mit – dass in der Vergangenheit zur Bekämpfung des Antisemitismus zu wenig getan worden ist.


Kontaktschuld als Argument für Cancel Culture


Um festzustellen, ob ein Künstler unliebsame Positionen vertreten hat, werden auch alte Postings durchforstet, wobei es nicht nur darum geht, was geschrieben, sondern auch was geteilt wurde. Dabei kommt auch ein Rechtsbegriff aus der bundesdeutschen Nachkriegszeit wieder zum Vorschein. Um festzustellen, ob eine Person als verfassungsfeindlich einzustufen ist, reiche eine eingehende Recherche zu folgenden Themenbereichen: Auf welchen Veranstaltungen hat sie gesprochen, in welchen Medien hat sie publiziert, welche Organisationen hat sie direkt oder indirekt unterstützt?


In Österreich existiert der Rechtsgrundsatz der Kontaktschuld nicht, es gibt lediglich das Verbotsgesetz.


In einer parlamentarischen Entschließung aus dem Jahr 2019 forderte der deutsche Gesetzgeber die Landesregierungen auf, allen Gruppen oder Einzelpersonen, die die Boykott-, Desinvestitions- und Sanktionsbewegung (BDS) aktiv unterstützen oder das Existenzrecht Israels in Frage stellen, öffentliche Mittel und die Vergabe von kommunalen Räumen zu verweigern. Der allumfassende Boykottaufruf der BDS, nicht nur gegen israelische Waren und Dienstleistungen, sondern auch gegen Künstler, Wissenschaftler und Sportler, führe in seiner Radikalität zur Brandmarkung israelischer Staatsbürger jüdischen Glaubens als Ganzes. Schon vor den Hamas-Anschlägen vom 7. Oktober wurde die Resolution dazu benutzt, um die Schließung von Ausstellungen, Konzerten, Vorträgen und Podiumsdiskussionen sowie die Streichung von Künstlern aus dem Programm zu rechtfertigen. Subventionen zu streichen, kann für Künstler existenzbedrohend sein.


Der Fall Deborah Feldmann


Cancel Culture betrifft sogar jüdische Intellektuelle. Deborah Feldmann, Autorin von "Unorthodox" und "Judenfetisch", hätte im Wiener Gartenbaukino lesen sollen, die Veranstaltung wurde kurzfristig abgesagt, weil möglicherweise "statt eines Diskurses eine unkontrollierbare Stimmung" entstanden wäre. Befürchtet wurde "eine potenzielle weitere Polarisierung in einer ohnehin aufgeheizten Zeit". Feldmann hatte in "Judenfetisch" Israel scharf kritisiert, und den Vorwurf erhoben, die einst aus der UdSSR nach Deutschland migrierten Kontingentflüchtlinge hätten ihr Jüdischsein vorgeschützt, um in Europa leben zu können. In "Unorthodox" erzählt sie autobiographisch die Geschichte einer jungen Frau, die in einer ultraorthodoxen jüdischen Gemeinschaft in Brooklyn aufwächst und aus ihrer Familie ausbricht - sie wurde "zum Liebling der liberalen jüdischen Community", schrieb "Der Standard".


Im Schlusskapitel seines Buches über Cancel Culture schreibt Nida-Rümelin: "Demokratie ist diejenige Staats- und Lebensform, die auf der kollektiven Selbstbestimmung der Freien und Gleichen beruht und politische Urteilskraft voraussetzt. Urteilskraft kann sich jedoch nur entfalten, wenn Gründe und Gegengründe angstfrei vorgebracht und abgewogen werden können."


0 Kommentare

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen

Woher der Ausdruck "Zuckerkoalition" kommt

Koalitionen werden im deutschen Politjargon oft nach den Farben von Nationalflaggen bezeichnet: Zum Beispiel Kenia-Koalition:  Der...

Rotkraut oder Blaukraut zum Martinigansl?

Unlängst gehe ich mit Renate & Wolfgang mittagessen. "Heute gibt's in unserem Stammlokal Gansl - magst mitkommen?" Beim Essen entspinnt...

Opmerkingen


bottom of page