Die Sprache entwickelt sich nach beschreibbaren Gesetzen. Das gilt nicht nur für die zwei Lautverschiebungen in der deutschen Sprache, sondern auch für die Bedeutungsentwicklung der Wörter - in diesem Beitrag soll es um die Schimpfwörter gehen.
Ich weiß, das ist ein heikles Thema. Denn "wir leben jetzt in einer Welt, in der man nichts schreiben darf, was Leser kränkt, überrascht, verletzt, verstört oder in irgendeiner anderen Weise deren Empfindlichkeiten berührt", sagte die Schriftstellerin Donna Leon unlängst in einem Interview mit der "Neuen Osnabrücker Zeitung". Und sie fügte hinzu: "Das gefällt mir ganz und gar nicht. Das nennt man Zensur." Gemeint ist: Kinderbücher werden gesäubert, Theaterstücke umgeschrieben oder nicht mehr aufgeführt.
Als Autor eines umfangreichen Wörterbuchs des Wienerischen ist mir die Haltung der erfolgreichen Krimiautorin sympathisch. Denn man kommt bei der Arbeit an dem Buch nicht darum herum, Wörter zu katalogisieren, die gegen die Political Correctness verstoßen. Zum Dialekt gehören auch die unanständigen Wörter, schon die Brüder Grimm plädierten dafür, sie nicht zu verschweigen.
Bei der Beschäftigung mit Schimpfwörtern im Wienerischen bin ich auf ein interessantes Phänomen gestoßen. Wörter, die ursprünglich dazu da waren, eine bestimmte und klar definierte Personengruppe als verächtlich darzustellen, machen eine Metamorphose durch: Sie werden zu allgemeinen Schimpfwörtern.
So war Sacklpicker ursprünglich ein negativer Ausdruck für Gefängnisinsasse - das Zusammenkleben von Papiersackerln gehörte zur Arbeitstherapie.
Mistelbacher war ursprünglich ein Schimpfwort für Polizisten - wegen der Polizeiheime, die Schober in dem niederösterreichischen Ort Mistelbach errichten ließ.
Geselchter, gesprochen Gsöchta, war ursprünglich stark abwertend auf Schwule bezogen.
Heute sind im Wienerischen alle drei - Sacklpicker, Mistelbacher und Gsöchta - allgemeine Schimpfwörter. Wer jemanden so tituliert, will damit sagen: Du bist ein verachtenswerter Mensch! Und nicht: Du bist ein Hefenbruder, ein Kieberer, ein Homosexueller.
So zu hören in der Schimpfkanonade "Gsöchta" von Wolfgang Ambros an: "Gsöchta, mit dein Heislschmäh bist bei mia im Oasch daham! / Glaubst, weust an Mercedes host, kaunst do deppert einedrahn?"
Das ist kein Spottlied auf Schwule.
Einige Jahrzehnte später singt Voodoo Jürgens in "Wer is er?": "Soiche Leit hob i scho gfressen: Wichtigmocha, Mistelbocha, Sacklbicka / der geht ma aum Zwicka."
Das ist kein Spottlied auf Polizisten und Häftlinge.
Damit soll jedoch nicht der Eindruck entstehen, dass die vielfältigen "tiafen" Dialektausdrücke typisch für das Wienerische sind. Das Wienerische hat für die Alltagskommunikation insgesamt einen hohen Gebrauchswert, nicht nur für das Schimpfen. Man denke nur an die zahlreichen Wörter für "lieben": du gfallst ma, i mag di, i hab di gern, i steh auf di, i fliag auf di, i foah ab auf di usw. Groß ist auch die Zahl dialektaler Ausdrücke für "weinen", "sich freuen", "essen", "trinken" usw. Natürlich auch für "ohrfeigen", "koitieren" usw.
Man sagt daher: Das Wienerische ist die Sprache der Nähe, der Standard ist die Sprache der Distanz. Und schimpfen lässt sichs besser auf Wienerisch.
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