In meiner Kolumne vom 12. Juli mit dem Titel 'Was sind normal denkende Menschen' habe ich jenes Wort, das jetzt in der politischen Debatte eine große Rolle spielt, von einem lateinischen Herkunftswort abgeleitet, das so viel wie 'nach dem Winkelmaß gemacht' bedeutet.
Das ist schon richtig, aber in Wirklichkeit ist alles komplizierter, worauf mich Univ.-Prof. Heinz-Dieter Pohl hingewiesen hat.
Wenn wir heute das Wort normal verwenden, denken wir an folgende Bedeutungen:
1. der Norm entsprechend; vorschriftsmäßig; Beispiel: der Puls ist normal
2. so beschaffen bzw. geartet, wie es sich die allgemeine Meinung als das Übliche, Richtige vorstellt; Beispiel: unter normalen Verhältnissen
3. in (geistiger) Entwicklung und Wachstum keine ins Auge fallenden Abweichungen aufweisend: bist du noch normal? (Ausruf des Ärgers, der Entrüstung über jemandes Verhalten oder Ähnlichem.)
So steht es auf duden.de, gefolgt von einem 'besonderen Hinweis': 'in der veraltenden, wertenden Bedeutung sollte das Wort normal im öffentlichen Sprachgebrauch nicht mehr verwendet werden. Das gilt besonders dann, wenn es als Gegensatzwort zu (geistig) behindert oder im Sinne von heterosexuell gemeint ist.'
So hat es Johanna Mikl-Leitner nicht gemeint. Ihr ging es um die Bedeutung (2). Sie wollte sagen: Wir von der ÖVP sind 'die Normalen', die anderen nicht, und impliziert damit gleichzeitig: 'wir bestimmen, was normal ist.'
Laut Duden ist das nicht besonders bedenklich, aber man sollte vorsichtig bei der Wortwahl sein. Die gleiche Vorsicht hätte allerdings auch Werner Kogler an den Tag legen dürfen - er bezeichnete Mikl-Leitner als 'präfaschistoid' und schob im gleichen Atemzug der katholischen Kirche die Hauptschuld an den Hexenprozessen in die Schuhe, was historisch falsch ist.
Bundespräsident Alexander Van der Bellen stellte die Landeshauptfrau Mikl-Leitner an den Pranger, weil sie die Gesellschaft spalten wolle und die politische Gesprächskultur vergifte; es wäre schön gewesen, wenn er auch Werner Kogler wegen seiner Wortwahl kritisiert hätte: Wörter wie faschistoid oder präfaschistoid sollte man als Politiker mit großer Vorsicht verwenden – auch Kogler muss sich den Vorwurf gefallen lassen, dass er die Gesprächskultur beschädigt hat.
Zurück zur Herkunft von (ab-)normal, und da wird es spannend.
Was ist richtig: abnormal oder anomal?
Das ist eine knifflige Frage, denn hier haben sich zwei Wörter vermischt, eines aus dem Lateinischen und eines aus dem Altgriechischen.
Das Ausgangswort für normal ist Norm, es geht zurück auf lateinisch norma (Winkelmaß, Richtschnur, Regel). Von lateinisch norma wurde abnormis (von der Regel abweichend) gebildet, was im Deutschen zunächst abnorm ergab.
Daneben gibt es eine zweite Entwicklungslinie, sie geht zurück auf griech. anómalos (ungleich). Daraus ist über das Lateinische das Adjektiv anomal (von der Regel abweichend, ungewöhnlich) entstanden.
Das Wort anomal wird nur noch selten verwendet, zunächst diente es als grammatikalischer Terminus und wurde in der Astronomie im Sinn von Amplitude gebraucht. Heute sprechen wir von einer Dichte-Anomalie des Wassers, von einer Anomalie des Wachstums, von einer geistigen Anomalie (Geistesgestörtheit).
Wir sollten also eigentlich zwischen „das ist abnorm“ und „das ist anomal“ unterscheiden. Tun wir aber nicht, es ist zu einer Wortmischung gekommen, was zu „abnormal“ geführt hat, manchmal ist auch „anormal“ zu lesen und zu hören. Die Bedeutung 3 von abnormal geht also vor allem auf Anomalie zurück.
Fazit: Die Wörter normal, abnormal, anomal sind ein gesellschaftspolitisches Minenfeld. Man sollte mit ihnen in der politischen Debatte vorsichtig umgehen.
Auch das ist ein Gegensatzpaar: normal und speziell
Der deutsche Fußballtrainer Jürgen Klopp definierte sich auf seiner ersten Pressekonferenz in Liverpool so: 'I am the normal one.' Das war eine Spitze gegenüber dem portugiesischen Trainer José Mourinho, der zuvor bei seinem Amtsantritt in einem anderen englischen Verein gemeint hatte: 'I am the special one'.
Auch das ist ein interessantes Gegensatzpaar: die Normalen und die Speziellen. Menschen können normal oder speziell sein – und Dinge auch.
In der Darstellenden Geometrie spricht man auch von "Nornaler" = im rechten Winkel = 90 ° stehender Geraden
MbG
Werner TILL