Auch Grillparzer und Doderer verwendeten "rückwärts" statt "hinten" - es war einmal österreichisches Hochdeutsch
- Robert Sedlaczek

- vor 6 Tagen
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"Bitte rückwärts einsteigen!" - Der Ruf des Schaffners, wie ich ihn in meiner Jugend oftmals gehört habe, klingt mir noch immer im Ohr. Als Buben sind wir dann manchmal aus Jux mit dem Rücken voran die Stufen hinaufgestiegen, was eine akrobatische Leistung war.
Wer "rückwärts" statt "hinten" sagt, will eine Assoziation mit dem als peinlich geltenden Wort "Hintern" vermeiden. Uns war das egal. Wir sagten auch "arschlings".
Später, bei der Beschäftigung mit den Eigenheiten des österreichischen Deutsch, habe ich in Grammatikbüchern gelesen, dass "rückwärts" mit der Bedeutung "hinten" eine Eigenheit nicht nur in Österreich, sondern auch im süddeutschen Raum ist.
Warum gibt es gerade diese regionale Verteilung der Ausdrucksweise? Es fällt auf, dass "rückwärts" statt "hinten" auf den katholischen Raum beschränkt ist. Dort dürften die Anklänge an die Bezeichnung für das Gesäß stärker irritiert haben als im protestantischen Norden.
Die angesehenen österreichischen Autoren haben "rückwärts" in allen Varianten verwendet, auch "nach rückwärts" (nach hinten) und "von rückwärts" (von hinten). Die folgenden Zitate stammen aus Franz Grillparzers Trauerspiel "Des Meeres und der Liebe Wellen":
Wie wir da knieten, rückwärts ich, du vorn,
Am Standbild Hymens, des gewalt'gen Gottes ...
Dort kommt die Priesterin. Ein schönes Weib.
Komm, lass uns knien. Doch nein, vorher noch schau mir
Querüber hier dem Fußgestell nach rückwärts,
Wie sie die Weihen üben, was sie tun.
Auch dort von rückwärts wächst des Volkes Drang,
Das murrend nur erträgt die Zögerung.
Auch Heimito von Doderer verwendete das Wort "rückwärts" in diesem Sinn, zum Beispiel in seinem Roman "Die Strudlhofstiege":
Das Augartenpalais stand rückwärts in einer Art von kulissenhafter Flachheit, ein wenig blendend unter dem blauen Himmel.
Er blieb durch einige Jahre zu Warschau im Ministerium und verstand es schließlich in der Wiener Alleegasse zu landen, die jetzt schon Argentinier Straße hieß, im Gebäude der polnischen Botschaft mit ihrer breiten Einfahrt, dem repräsentativen Stiegenhaus in dunklem Holz und dem seitlich nicht sehr ausgedehnten, aber tief nach rückwärts hineineinlaufenden Garten.
Diese österreichische Eigenheit wird in Deutschland von Grammatikern seit jeher bekämpft. So ist im Jahr 1874 ein Buch mit dem Titel "Das österreichische Hochdeutsch. Versuch einer Darstellung seiner hervorstechendsten Fehler und fehlerhaften Eigentümlichkeiten" erschienen. Ein gewisser Hermann Lewi all jene österreichischen Eigenheiten, die mit den mitteldeutsch geprägten Normen nicht in Einklang zu bringen sind. Im Kapitel "Austriacismen" kann man lesen:
"Rückwärts" steht im guten Deutsch wie "vorwärts", "himmelwärts" etc. nur auf die Frage "wohin?", "sich rückwärts befinden" u. dgl. ist daher mindestens sehr schlecht.
Am Schluss zieht er folgendes Resümee:
Bei der Auswahl einer Grammatik lasse man aber - ich muss wieder etwas Unangenehmes sagen - die von österreichischen Autoren - verfassten lieber ganz bei Seite: ich fürchte, dass man aus ihnen vor der Hand wenigstens, immer wieder nur österreichisches Deutsch lernt. Der österreichische Schulmeister entbehrt im allgemeinen, vorläufig zum mindesten, der zur Abfassung einer Grammatik notwendigen Gründlichkeit und pedantischen Genauigkeit.
Was meinen die heutigen Grammatiken? Der Duden-Band "Richtiges und gutes Deutsch" sieht es so: "Im Süden und besonders in Österreich steht rückwärts auch für hinten (...) In der Standardsprache sollte man diese missverständliche Ausdrucksweise vermeiden."
Missverständlich? Die Duden-Redaktion meint, Gutgläubige würden sich tatsächlich arschlings in Bewegung setzen, wenn der Fahrer ruft: "Bitte rückwärts aussteigen, die vordere Tür klemmt."
Das "Österreichische Wörterbuch" wertet "rückwärts einsteigen" nicht als falsch, sondern nur als veraltend - sprich: verstaubt. Anders ausgedrückt: Ein Fehler ist es nicht.
Wir haben also einen Freibrief, "rückwärts" im Sinne von "hinten" zu verwenden, müssen aber in Kauf nehmen, dass wird belächelt werden. Sich auf Grillparzer oder Doderer zu berufen, wird nichts nützen.
Wie generell der österreichische Standard oft missverstanden wird. "Rückwärts" ist also ein Symbolfall. Eigenartig ist nur, dass es im protestantischen Gebiet diese Pietätsersetzungen durchaus gibt: ashphalt statt asphalt (ass) heißt es da. Bis heute.