Straßenbahnjargon: In der Nazizeit wurde "die Blaue" abgeschafft
- Robert Sedlaczek
- vor 31 Minuten
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Als die Blaue wird im Wien der letzte Kurs einer Linie am Ende des Tages bezeichnet. Ich kenne den Ausdruck aus meiner Jugend. Als ich noch kein Auto hatte, ging es darum, die Fahrpläne genau zu kennen: Wann fährt die letzte Straßenbahn, die es noch zu erwischen gilt?
In mein Hirn eingebrannt hat sich der Gedanke: "Die letzte Blaue musst du unbedingt erreichen, für ein Taxi hast du nicht genug Geld." Eine frühere Straßenbahn ohne Hast zu nehmen, war allerdings keine Option. Das hätte geheißen, die Zeit des Auf-Lepschi-Gehens nicht voll auszuschöpfen.
Wobei die letzte Blaue eine verkorkste Formulierung ist. Entweder die letzte Straßenbahn oder die Blaue, nicht die letzte Blaue. Aber wir sagten es halt so.
In Erich Kocinas "Wiener Öffi-Wörterbuch. Von Angsthäuferl bis Zwicken", erschienen bei Ueberreuter, wird nicht nur der Ausdruck die Blaue erklärt, ich erfahre auch, dass die vorletzte Garnitur betriebsintern als die Weiße bezeichnet wird, und die drittletzte als die Vorweiße oder die Grüne.
Ich recherchiere dort, wo sicherlich auch Erich Kocina recherchiert hat, auf www.strassenbahnjournal.at. Auf dieser Webseite ist zu lesen, dass die Kennzeichnung des letzten Wagens bereits 1873 oder 1874 eingeführt wurde. Später entschloss man sich, auch noch den vorletzten Wagen mit einer Vorsteckscheibe zu versehen: Diese war blauweiß.
Die Praxis geriet erst durch den "Anschluss" Österreichs 1938 ins Wanken. Da in Nazi-Deutschland eine Kennzeichnung der letzten Züge nicht üblich war, wurde diese auch in Wien abgeschafft und am 4. Februar 1939 letztmalig verwendet.
Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Befreiung von der Naziherrschaft wurden Forderungen nach Wiedereinführung der Blauen laut. Als auch die Tageszeitungen auf das Thema einstiegen, entschloss sich der Amtsführende Stadtrat für die städtischen Unternehmungen, Richard Nathschläger, dem Ruf der Bevölkerung zu folgen. Die neuerliche Kennzeichnung trat am 9. Juni 1951 in Kraft.
Mit Einführung der Brosebänder, das sind weiße Kunststofffolien, auf denen Linienbezeichnung und Fahrziel aufgedruckt sind, und in weiterer Folge der Punktmatrixanzeigen wurde die Kennzeichnung der letzten Züge technisch schwierig. Am 4. März 1995 war zum letzten Mal eine Blaue unterwegs.
Den Ausdruck Weiße kann man sich so erklären, dass damit auf die zum Teil weißen Tafeln angespielt wurde. Vorweiße für die drittletzten Garnitur ist plausibel, aber warum heißt diese auch die Grüne?
Wenn nicht einmal Erich Kocina dieses Rätsel lösen konnte, wer dann?
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