Es gibt Wörter, die haben eine typische Lautform und eine einleuchtende Etymologie. Und trotzdem sind sie vom Aussterben bedroht.
Ja, ich weiß schon, das ist unwissenschaftlich, damit vertrete ich meine persönliche Meinung. Es ist mir egal.
Mein Lieblingswort, dem ich alles Gute wünsche, ist Schlieferl. Ich habe wenige Menschen in meinem Bekanntenkreis gefunden, die das Wort kennen: Das spornt mich an.
Außerdem kannte ich nur wenige Belegstellen, begeistert hat mich ein Essay über das Schlieferl von Anton Kuh. Der beste Feind von Karl Kraus - und vice versa - hat sich ausführlich mit der Frage befasst, was ein Schlieferl ist und welche Charakterzüge es hat.
Und jetzt gibt es plötzlich ein Buch, das jede Menge weiterer Belegstellen nennt. Es heißt Historisches Wörterbuch zur österreichischen Literatur und ist im Verlag des Linzer Stifterhauses erschienen. Autor ist Jakob Ebner, der führende Lexikograph Österreichs, Mitarbeiter am Österreichischen Wörterbuch und Autor des Duden-Bandes Österreichisches Deutsch, Wörterbuch der Gegenwartssprache in Österreich, frühere Ausgaben sind unter dem Titel Wie sagt man in Österreich erschienen.
Ebner hat die österreichische Literatur von 1760 bis 1960, von Philipp Hafner bis Heimito von Doder, nach typisch österreichischen Ausdrücken durchforstet und auf mehr als tausend Seiten dokumentiert. Zum Schlieferl schreibt er: kriecherischer Mensch, der sich bei Vorgesetzen einschmeichelt, meist im Zusammensetzungen.
Das erste Beispiel stammt aus dem Nachlass von Robert Musil: "Mithilfe dieser Ausrüstung wurde das Schlieferl sehr angenehm und unterschied sich auf das Vorteilhafteste von einem Kriecher. Auf einem Kriecher tritt man herum, was immerhin eine, wenn auch geringe Anstrengung bereitet, wenn man Schlieferl hat, bleibt man bequem im Amtsstuhl sitzen, und bei dieser Gelegenheit, also bei der Sitzgelegenheit, dringt das Schlieferl hinein und erobert sich das Innere seines Vorgesetzten."
In Karl Kraus, Die letzten Tage der Menschheit, heißt es: "Ich war der erste, der die Presse mehr herangezogen hat, jetzt hat scho jeder sein Schlieferl, alles nur wegen der Reglam."
In der Fackel: "So viele Jahre können nach dem Umsturz gar nicht verstreichen, dass die Schnüfferl und Schlieferl nicht noch Authentisches aus Hofkreisen ersehnten."
Und wieder in der Fackel: "In Wien sind sie anständig genug, wenn sie nicht jeweils über ihre eigene Premiere schreiben, sondern einen, Kollegen' mit ihrer Stellvertretung betrauen. Wird das Unterläufel aufgeführt, so referiert das Oberschlieferl."
Ach ja, das Schlieferl ist natürlich eine Ableitung von schliefen.
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Buchempfehlung: Das Historische Wörterbuch zur österreichischen Literatur von Jakob Ebner ist vor kurzem im Verlag des Adalbert-Stifter-Instituts des Landes Oberösterreich erschienen, es hat 1058 Seiten, kostet 59,-- Euro und ist im guten Buchhandel erhältlich. Eine umfangreiche Leseprobe findet sich auf stifterhaus.at, dann "Publikationen" anklicken und im Suchsystem das Buch Ebners eingeben.
Nicht zufällig heißt im Ostmittelbairischen der Ohrwurm "Ohrenschliefer".